Der Begriff „sichere Bindung“ ist dir bestimmt schon begegnet – wenn es um bedürfnisorientierte Erziehung oder friedvolle Elternschaft geht, spielt er immer wieder eine Rolle. Eine sichere Bindung zu deinem Kind aufzubauen, scheint wichtig zu sein.
Warum ist das so? Was genau ist eigentlich eine sichere Bindung? Und was bedeutet das jetzt für dich als Elternteil?
Diese Fragen beantworte ich dir in diesem Artikel.
Inhaltsverzeichnis
ToggleWas ist Bindung überhaupt?
Als Bindung bezeichnet man das unsichtbare Band, das Säuglinge vom ersten Tag an an ihre
Bezugspersonen knüpfen, um sicherzustellen, dass sie versorgt und beschützt werden.
Sie ist die Voraussetzung dafür, dass das Kind überleben kann. Hat ein Säugling niemanden, der ihn versorgt, dann stirbt er.
Denn Menschenkinder sind, anders als manche Tiere, zum Zeitpunkt ihrer Geburt völlig unfähig, selbst für ihr Überleben zu sorgen. Sie können sich nicht mit Nahrung versorgen, nicht vor Kälte und Raubtieren schützen. Sie können sich also ihre körperlichen, aber auch die seelischen Grundbedürfnisse nicht selbst erfüllen.
Der Säugling wird also alles tun, um die Bindung aufrecht zu erhalten. Die Bindung hat oberste
Priorität. Sie ist sogar wichtiger, als die eigene Integrität. Wichtiger, als eigene Grenzen und
Bedürfnisse. Im Zweifel wichtiger als Spielen, Erforschen, Lernen.
Denn Bindungsverlust bedeutet Lebensgefahr.
Wie sich diese Bindung zwischen Bezugsperson und Kind entwickelt, liegt allein in der Verantwortung von uns Erwachsenen. Unsere Interaktion mit unserem Kind bestimmt darüber, welche Art von Bindung es zu uns aufbauen kann.
Welche Bindungstypen gibt es?
Es werden drei Arten von Bindung unterschieden:
- Sichere Bindung
- Unsichere Bindung – mit zwei Unterformen
- unsicher – vermeidend
- unsicher – ambivalent
- Desorganisierte Bindung
Die sichere Bindung
Eine sichere Bindung zwischen dir und deinem Kind entsteht dann, wenn es dir in der Regel gelingt, feinfühlig und prompt die Signale deines Kindes zu entschlüsseln und angemessen darauf zu reagieren.
Wenn du also die Bedürfnisse deines Kindes einigermaßen zuverlässig erfüllst.
Beim kleinen Baby sind das vor allem Nahrung, Schlaf, das Beseitigen von unangenehmen Körperempfindungen (Kälte, volle Windel, …). Aber eben auch Geborgenheit, Sicherheit, Nähe und Körperkontakt. Hierzu gehört auch unbedingt das Begleiten von unangenehmen Gefühlen. Denn Kinder können starke Gefühle noch nicht selbst bewältigen. Sie können ihr Nervensystem noch nicht selbst wieder durch Regulation ins Gleichgewicht bringen, sondern brauchen die Co-Regulation eines Erwachsenen.
Das alles vermittelt dem Kind Sicherheit und Geborgenheit, auf die sich das Kind dann später auch ohne unsere Anwesenheit verlassen kann.
Sicher gebundene Kinder haben die tiefe Gewissheit verinnerlicht, dass sie richtig sind und einen Platz in der Welt haben.
Und dafür ist es auch gar nicht nötig, dass immer alles wie am Schnürchen läuft. Die Bindung ist
nicht so empfindlich, wie viele befürchten. Du kannst eine sicher Bindung zu deinem Kind herstellen,
auch wenn du mal die Nerven verlierst oder dich gerade nicht um dein weinendes Kind kümmern
kannst, weil du mit einem anderen Kind beschäftigt bist oder Auto fährst, oder unter der Dusche
stehst.
Es macht einen großen Unterschied für das Kind, ob es spürt: Mama (oder jede andere Bindungsperson) sieht meine Not, kann aber gerade nicht helfen. Oder wenn es gelernt hat: Mama will mir gar nicht helfen, ich muss eh allein zurecht kommen.
Welchen Einfluss hat die sichere Bindung auf dein Kind?
Eine sichere Bindung ist die Voraussetzung dafür, dass dein Kind sich, wenn es älter wird, ohne Angst andere Bedürfnisse erfüllen kann: zum Beispiel das Bedürfnis nach Autonomie, nach Selbstwirksamkeit.
Die sichere Bindung ist quasi das Fundament dafür, dass das Kind dann altersgemäß anstehende
Entwicklungsschritte unbesorgt angehen kann. Dabei wird es getragen von einem Urvertrauen in sich
und die Welt, der Gewissheit, wichtig und wertvoll zu sein und jederzeit beschützt zu werden, falls
das nötig werden sollte.
Außerdem sorgt eine sichere Bindung für eine bessere Sprachentwicklung, fördert Teamfähigkeit, die
Fähigkeit, Freundschaften zu schließen und ermöglicht noch dazu bessere Lernleistungen.
Und später im Leben?
Sicher gebundene Erwachsene haben gute Voraussetzungen für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung
und ein zufriedenes Leben.
- Sie können mit Gefühlen (unangenehmen und angehemen) umgehen und diese „regulieren“: das
heißt im Nervensystem wieder einen ausgeglichenen Zustand herstellen.
- Sie haben eine bessere Widerstandsfähigkeit gegenüber belastenden Erlebnissen (Resilienz)
- Sie haben ein gesünderes Stressverarbeitungssystem und damit einen gewissen Schutz vor psychischen und körperlichen Krankheiten. (Das medizinische Fachgebiet, das diese Zusammenhänge untersucht heißt Psycho-Neuro-Immunologie. Hier habe ich darüber geschrieben.)
Die sichere Bindung ist quasi der Jackpot unter den Bindungsstilen. 😎
Die unsichere Bindung
Erhält ein Kind zu oft nicht, was es braucht, werden also Bedürfnisse immer wieder nicht ausreichend erfüllt, entsteht eine unsichere Bindung. Das Kind kann sich nicht darauf verlassen, dass eine Bezugsperson da ist und sich kümmert. Um aber trotzdem zu überleben, entwickelt das Kind Strategien, die die Bindung so gut wie eben möglich sicherstellen sollen. Auch unter ungünstigen Umständen entsteht Bindung!
Es werden zwei Arten der unsicheren Bindung unterschieden: die unsicher-vermeidende und die unsicher-ambivalente. Das zweite Wort umschreibt, wie das unsicher gebundene Kind auf Bedrohung und Stress reagiert.
Die unsicher-vermeidende Bindung
Die unsicher-vermeidende Bindung entsteht, wenn ein Kind erfährt, dass auf sein Bindungsverhalten
(weinen, schreien, Körperkontakt suchen…) keine passende Reaktion oder sogar Zurückweisung folgt.
Klassisches Beispiel sind die Schlaftrainings, bei denen Säuglinge so lange schreien gelassen werden,
bis sie von allein Ruhe geben. Am Anfang ist das Einschlafen noch eine Notfallstrategie des
Nervensystems, das den lebensbedrohlichen Zustand des Alleingelassen-seins nicht länger aushalten
kann. Später aber wird das allein und in Ruhe Einschlafen zu einer typischen vermeidenden Strategie.
Denn das Kind hat ja gelernt, dass sowieso keine Hilfe kommen wird und unterdrückt daher sein
Bindungsverhalten.
Evolutionsgeschichtlich macht das total Sinn, denn wenn schon keiner dem Säugling hilft, dann muss er sich wenigstens ruhig verhalten, um möglichst nicht vom nächstbesten Raubtier gefressen zu werden.
Erfährt ein Kind also, dass es nicht getröstet wird, wenn es Trost benötigt sondern stattdessen die
Bindungsperson wütend wird oder das Kind wegschickt oder vielleicht gar nicht reagiert, dann wird
das Kind mit der Zeit nicht mehr nach Trost suchen, sondern versuchen, selbst mit der Situation fertig zu werden.
Die Bindungssuche wird „vermieden“. Kontaktsuche, das Äußern von Gefühlen und Bedürfnissen, das Sich-verletzlich-zeigen wird vermieden.
Das Kind sichert sich die Bindung am ehesten dadurch, dass das Bindungsverhalten unterdrückt wird.
Was für manche nach einer wünschenswerten Abhärtung oder einer willkommenen Unkompliziertheit des Kindes klingt, ist für das kindliche Gehirn ein riesiges Problem. Denn die Übererregtheit des Nervensystems verschwindet nicht einfach so. Es gab ja einen Grund, dass das Bindungsverhalten ausgelöst wurde. Zum Beispiel ein unerfülltes Bedürfnis oder Gefühle wie Angst, Unsicherheit, Schmerz, Traurigkeit.
Ohne Co-Regulation oder Bedürfniserfüllung dauert es sehr sehr viel länger, bis die Stresshormone
wieder abgebaut werden können und wieder Ruhe im System einkehrt.
Dieser Dauerstress hat Folgen für die Psyche, das kindliche Gehirn, sogar das Hormongleichgewicht
und das Immunsystem. Und zwar nicht nur in dem Moment, wo das Kind mit seiner Not allein
gelassen wird. Dieser Dauerstress hinterlässt Spuren und kann das Kind bis ins Erwachsenenalter
prägen.
Und auch das Bindungsmuster besteht in der Regel fort, wenn nicht aktiv daran gearbeitet wird und
beeinflusst alle zwischenmenschlichen Beziehungen, die das Kind im Lauf seines Lebens eingeht.
Die unsicher-ambivalente Bindung
Hier ist es für das Kind ein bisschen schwieriger gewesen, herauszufinden, mit welchem Verhalten die
Bindungsperson am besten „bei Laune“ gehalten werden kann. Das Kind konnte nie so recht
vorhersagen, welches Verhalten der Bindungsperson auf sein Bindungsverhalten folgen wird.
Mal ist die Reaktion so überfürsorglich und beschützend, dass sich Angst auf das Kind überträgt und
dieses gar nicht unbesorgt die Welt und seine eigenen Fähigkeiten entdecken kann.
Mal ist die Reaktion abweisend oder unbeteiligt oder sogar angsteinflößend.
Diese Unberechenbarkeit macht die Welt für diese Kinder zu einem zutiefst bedrohlichem Ort.
Unsicher-ambivalent gebundene Kinder reagieren oft auf vermeintliche Kleinigkeiten mit großer Verzweiflung.
Typisch ist aber auch, dass Trost gesucht wird, dann aber nicht angenommen wird. Zum Beispiel, dass
das Kind sich auf dem Arm der Bindungsperson dann nicht trösten lässt, sondern sich aus der
Umarmung heraus windet. Oder dass ein Kind, das schon mobil ist, zur Bindungsperson hingeht und
dann auf halbem Weg kehrt macht und wieder auf Distanz zur Bindungsperson geht.
Auch dieses Bindungsmuster verursacht Stress im Nervensystem. Bzw kann der vorhandene Stress
schwerer abgebaut werden als bei sicher gebundenen Kindern.
Im Erwachsenenalter ist dann in Beziehungen das Wechselspiel von Nähe und Distanz ein schwieriges Thema. Menschen mit unsicher-ambivalentem Bindungsstil klammern zum Beispiel oder leiden unter starken Verlustängsten. Für ihre Freund*innen oder Partner*innen kann ihr Verhalten sehr herausfordernd sein.
Die desorganisierte Bindung
Wärend die unsicher gebundenen Kinder immerhin eine funktionierende Strategie entwickeln konnten, um sich die Bindung den Umständen entsprechend bestmöglich zu sichern, konnten Kinder mit einem desorganisierten Bindungsmuster eigentlich gar keine Bindungserfahrungen machen. Oder von der
Bindungsperson ging gleichzeitig große Gefahr aus (in Form von Gewalt zum Beispiel).
Die Autorin Nora Imlau spricht deshalb hier auch von einer „Nicht-Bindung“.
Dieser Bindungstyp kann in Umfeldern von Missbrauch entstehen oder auch bei fehlenden festen Bezugspersonen (zum Beispiel bei Unterbringung im Heim unter ungünstigen Umständen).
Hier bestehen große Schwierigkeiten bei der Fähigkeit, Emotionen zu regulieren, Verhalten zu
kontrollieren, sich in soziale Gruppen einzufügen.
Menschen mit desorganisierter Bindung haben ein hohes Risiko, später im Leben psychische Erkrankungen zu entwickeln.
Bindungsmythen
Es kursieren einige Mythen über die Bindung, die dir und deinem Kind das Leben unnötig schwer machen können. Vielleicht kann ich dir hier ein bisschen Last von den Schultern nehmen:
Nur die Mama…
Bindung interessiert sich weder für Geschlecht noch für biologischen Verwandtschaftsgrad. Wer die Person ist, zu der die Bindung aufgebaut wird (Bindungsperson), kann unterschiedlich sein.
Häufig sind es Mama und/oder Papa, es können aber auch andere Familienmitglieder sein oder auch
nicht-verwandte Betreuungspersonen. Ein kleines Kind kann mit bis zu 5 Personen eine Bindung
aufbauen.
Keine unangenehmen Gefühle…
Es ist nicht deine Aufgabe, das Kind vor unangenehmen Gefühlen bewahren. Es ist aber sehr wohl deine Aufgabe, deinem Kind bei der Bewältigung seiner Gefühle zu helfen (Co-Regulation).
Fragiles Band…
Die Bindung ist kein Seidenfaden, der bei der kleinsten Belastung reisst. Sie ist eher wie ein dickes, elastisches Gummiband.
Sie leidet nicht darunter, wenn du einen Fehler machst, einen schlechten Tag hast oder dich vorübergehend mal nicht so gut um dein Kind kümmern kannst.
Mittlerweile weiß die Bindungsforschung, dass die Reparatur (Repair) eines Bindungsbruchs sogar wertvoller ist, als immer alles richtig zu machen. Geh also nach so einem Bruch wieder auf dein Kind zu und stelle eine Beziehung zu ihm her, damit es weiß: „Auch wenn ich mal nicht bekomme, was ich brauche, bin ich hier sicher.“
Die Wahrscheinlichkeit für eine sichere Bindung ist sogar höher, wenn nicht immer alles perfekt läuft!
Bestimmte Regeln…
Nur gestillte, getragene Kinder, die direkt nach der (selbstverständlich natürlichen) Geburt bei der Mutter sein können, können eine sichere Bindung aufbauen?
Völliger Quatsch!
Mit welchen Mitteln du die Bedürfnisse deines Kindes erfüllst, spielt überhaupt keine Rolle! Selbstverständlich schaden weder Kaiserschnittgeburt noch Flaschennahrung der Bindung. Mehr dazu kannst du im Artikel Mythen und Irrtümer über die bedürfnisorientierte Erziehung lesen.
Keine Grenzen…
Hast du Angst, deinem Kind zu schaden, wenn du ihm nicht alle Wünsche erfüllst?
Kein „Nein“, kein achtsames Wahren deiner eigenen Grenze gegenüber deinem Kind schadet jemals der
Bindung! Eine völlig erschöpfte Bindungsperson, die sich nicht um sich selbst kümmert, dagegen schon.
Es ist nie zu spät
Ja, die Bindung ist wichtig und eine sichere Bindung das schönste Geschenk, das wir unserem Kind machen können.
Aber auch, wenn du glaubst, bisher vielleicht manches falsch gemacht zu haben: Bindung ist nicht in Stein gemeißelt. Du hast jederzeit die Chance, die Beziehung zu deinem Kind zu verbessern. Gute Erfahrungen können manches ausgleichen, was in der Vergangenheit vielleicht nicht so gut gelaufen ist.
Halte dich nicht mit Selbstgeißelung oder zermürbenden Schuldgefühlen. Die Vergangenheit kannst du nicht ändern, aber du hast ab JETZT die Möglichkeit, jede kommende Interaktion mit deinem Kind bewusster zu gestalten.
Wenn du erfahren möchtest, wie deine eigenen Bindungserfahrungen die Beziehung zu deinem Kind beeinflussen, dann lies den Artikel Die Auswirkungen deines eigenen Bindungstyps auf deine Elternschaft.
Und wenn du wissen willst, was in deinem Nervensystem passiert, wenn du motzt anstatt gelassen zu bleiben, dann schau dir den Artikel Gelassen mit deinem Kind umgehen – Warum dir das so schwer fällt! an.
Beitragsfoto: Ivanna Lukiian
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