Du nimmst dir immer wieder vor, heute gelassen mit deinem Kind zu bleiben und endest doch wieder meckernd und schimpfend?
So langsam hast du echt alle Familienratgeber und Blogs gelesen, dich stundenlang durch Social media gescrollt und hast das Gefühl, dass dein Wissen dir überhaupt kein bisschen weiterhilft?
Du kannst nichts dafür, dass du es nicht schaffst, gelassen mit deinem Kind umzugehen!
Der Grund dafür liegt in deinem Nervensystem.
Denn dein Verstand ist nur EIN Teil davon. Und für dein Überleben nicht einmal der Wichtigste.
Der Großteil deines Gehirns arbeitet quasi im Hintergrund, ohne dass du es steuern kannst.
Die Feuerwehr deines Gehirns: das autonome Nervensystem
Den Teil unseres Nervensystems, den wir nicht bewusst steuern können, nennt man autonomes Nervensystem. Es ist dafür zuständig, wichtige Körperfunktionen aufrecht zu erhalten: Atmung, Herzschlag, Verdauung, das Bereitstellen von Energie.
Dieser Teil unseres Nervensystems sorgt auch dafür, dass wir schnell auf Gefahren reagieren können. Kommt von irgendwo her das Signal, dass die Sicherheit bedroht ist, wird Alarm ausgelöst und der Notfallmodus angeschmissen: der Körper bereitet sich auf die grundlegenden Verteidigungsstrategien vor – Flucht, Kampf oder Erstarren.
Hier ist Schnelligkeit in den Nervenbahnen gefragt: Wir können nicht erst lange überlegen und Pläne schmieden. Das verschwendet wertvolle Zeit und verbraucht kostbare Denkenergie. Erfolgsversprechender ist es, wenn hier automatisierte Handlungsmuster ablaufen – Autopilot sozusagen. Meistens ohne, dass wir es merken und ohne, dass wir irgendetwas dagegen tun können.
Wichtig ist für den Organismus in dem Moment nur eins: Maximale Energie für Flucht, Kampf oder Erstarren und minimale Energie für Denkprozesse.
Es ist ein bisschen vergleichbar mit der Feuerwehr. Kommt ein Alarm in die Zentrale, werden die gut eingeübten Abläufe ausgeführt, damit keine Zeit verloren wird. So schnell wie möglich sitzen alle Einsatzkräfte im Feuerwehrauto, das sofort mit Blaulicht und Sirene losdüst.
Das ungefähr passiert auch, wenn in deinem System ein Alarm losgeht.
Alarm im Alltag – Was deine Wut damit zu tun hat
Das passiert zum Beispiel, wenn du im Alltag mit deinem Kind von einem Moment auf den anderen total wütend wirst und dein Verhalten sich irgendwie verselbstständigt.
Wenn du nicht verhindern kannst, dass du schimpfst und motzt, obwohl du dir fest vorgenommen hast, es nicht zu tun.
Wenn du vielleicht dein Kind unsanft in die Jacke zwängst, damit ihr endlich los könnt.
Oder du dich gefühlsmäßig zurückziehst.
Wut als Reaktion auf Gefahr
Wo hierbei denn bitte die lebensbedrohliche Gefahr sein soll, auf die dein Körper da so reagiert?
Dazu komme ich weiter unten noch.
Warum ist das so, dass wir da in dem Moment nichts dagegen tun können? Die Antwort liegt im Aufbau unseres Nervensystems.
Warum du manchmal nicht klar denken kannst
Ganz grob vereinfacht kann unser Gehirn nach der Funktion in drei Bereiche eingeteilt werden
- Neokortex
- limbisches System
- Stammhirn
Der Neokortex ist ein Teil der Großhirnrinde, also der grauen Substanz. Hier sitzen unser Verstand und die Denkfähigkeit
Das limbische System ist für Gefühle, zwischenmenschliche Beziehungen und Erinnerung zuständig
Im Stammhirn werden die grundlegenden Körperfunktionen gesteuert, also zum Beispiel Atmung, Herzschlag, Körpertemperatur
Diese drei Anteile sind nicht ganz gleichberechtigt, es herrscht eine Hierarchie. In der Wichtigkeit für unser Überleben ist das Stammhirn ganz oben, dann kommt das limbische System und zum Schluss der Neokortex. Nur wenn der „überlebenswichtigere“ Teil in Sicherheit arbeiten kann, sind auch die anderen Teile voll funktionsfähig.
Das heißt, dass bei Gefahr der Verstand immer als erstes „ausgeschalten“ wird.
Wenn im limbischen System Alarm herrscht, weil bedrohliche Gefühle aktiviert wurden, kann der Verstand nicht mehr so gut arbeiten.
Ist die Gefahr so groß, dass eine Notfallstrategie (Flucht, Kampf oder Erstarren) aktiviert wird, geht buchstäblich gar nichts mehr, dann ist alle Energie auf das Sicherstellen des Überlebens gerichtet. Hier ist kein klarer Gedanke mehr möglich, dein Verstand ist schlichtweg nicht erreichbar.
Wo denn nun im Alltag bitte diese „Gefahr“ sein soll?
Was als Gefahr wahrgenommen wird, ist höchst subjektiv!!!!!!
Ursprünglich mal dazu gedacht, zum Beispiel auf einen Angriff eines Raubtieres angemessen zu reagieren, steht uns unser Notfallprogramm heute im Alltag oft irgendwie im Weg.
Unser Leben ist im Familienalltag in der Regel nicht wirklich bedroht.
Trotzdem reagiert unser Nervensystem auf scheinbar banale Situationen mit dem Notfallmodus.
Warum?
Weil dein persönliches Gefühl von „Sicherheit“ entscheidend davon abhängt, welche Erfahrungen du in deinem bisherigen Leben gemacht hast, welche Botschaften du im Leben erhalten hast, wie die Bindung zu deinen Bezugspersonen ausgesehen hat – kurz, wie dein Nervensystem geprägt wurde.
Das heißt, dass verschiedenste Dinge deinem System „Gefahr“ melden können.
Das können bestimmte unangenehme Gefühle sein (z.B. Angst). Das können automatisch ablaufende Gedanken sein (z.B. „Hier nimmt nie jemand auf mich Rücksicht“). Das können bestimmte Beziehungskomponenten sein (z.B. Nähe).
Lauter an sich ungefährliche Sachen, die in dir die höchste Alarmstufe auslösen.
Meistens, ohne dass du das groß beeinflussen kannst.
Woran du merkst, dass dein System gerade in Stress gerät, erfährst du hier.
Warum es so schwer ist, dein Verhalten zu ändern und gelassen mit deinem Kind zu bleiben
Über die Jahre deines Lebens haben sich manche Verhaltens- oder auch Denkmuster so gut in dein Nervensystem eingeprägt, dass sie voll automatisiert ablaufen. Das ist eigentlich auch gut so, denn so wird Energie gespart.
Die Nervenverbindungen, die dafür benötigt werden, sind besonders stabil, weil sie schon häufig benutzt wurden. Sie bilden feste neuronale Netzwerke.
In deinem Gehirn sind sie die mehrspurigen Autobahnen.
Häufig befahren, der schnellste und bequemste Weg zum Ziel. Es gibt zwar schon auch noch Landstraßen, kleinere Wege und sogar Trampelpfade. Die zu befahren würde aber viel mehr Energieaufwand bedeuten, weshalb unter Stress lieber wieder der altbekannte Weg über die Autobahn benutzt wird.
Die gute Nachricht: auch du kannst gelassener werden!
Wir können neue Straßen in unserem Gehirn bauen.
Jederzeit. Unser Gehirn ist bis an unser Lebensende in der Lage, neue Nervenverbindungen zu knüpfen.
Auch wenn die Autobahnen besonders breit sind. Auch, wenn der Trampelpfad vielleicht besonders uneben und zugewuchert ist.
Es erfordert etwas Arbeit. Etwas Achtsamkeit dir selbst gegenüber. Es erfordert Wiederholung, damit der Trampelpfad nicht wieder zuwächst. Aber es ist möglich.
Und dann schaffst du es, auf das Verhalten deines Kindes anders zu reagieren. Es anders zu interpretieren.
Dann kannst du die Mama sein, die du sein willst für dein Kind.
Fazit: du hast dich nicht zu wenig angestrengt!
Dass du also immer wieder in alte Muster fällst, liegt nicht daran, dass zu dich zu wenig anstrengst.
Es liegt schlicht an der Funktionsweise deines Nervensystems.
Von welchen Trampelpfadbegehungen kannst du schon erzählen? Wann ist es dir gelungen, aus deinem Muster auszubrechen und anders zu reagieren, als sonst?
Erzähl´ doch in den Kommentaren davon!
2 Antworten