Nimmst du dir immer wieder vor, gelassen und geduldig zu bleiben und endest doch wieder meckernd und schimpfend?
Hast du so langsam echt alle Familienratgeber und Blogs gelesen und stundenlang durch Social Media gescrollt und hast doch das Gefühl, dass dein Wissen dir in manchen Situationen überhaupt kein bisschen weiterhilft?
In diesem Artikel erfährst du, warum das so ist.
Spoiler: es liegt nicht daran, dass du dich nicht genug angestrengt hast.
Es liegt vielmehr an deinem Gehirn und deinem ganzen Nervensystem. Daher kommt hier eine Übersicht, wie wir Menschen “ticken”.
Ein grundlegendes Wissen darüber hilft dir nämlich, dich besser zu verstehen und auch anders handeln zu können.
Keine Angst, es wird nicht kompliziert!
Inhaltsverzeichnis
ToggleHierarchien im Gehirn: warum du manchmal nicht klar denken kannst
Dein Gehirn hat grundsätzlich mal die Aufgabe, dein Überleben zu sichern. Das ist die oberste Priorität.
Erst wenn das Überleben sichergestellt ist, kann es sich um andere Dinge kümmern – zum Beispiel darum, eine liebevolle Verbindung zu einem anderen Menschen aufzubauen.
Damit das klappt, sind nicht alle Bereiche im Gehirn gleichberechtigt. Es herrscht eine Hierarchie: von “überlebenswichtig” bis “nice to have”.
Aufbau Gehirn
Ganz grob vereinfacht kann unser Gehirn nach der Funktion in drei Bereiche eingeteilt werden:
- Der Neokortex ist ein Teil der Großhirnrinde, also der grauen Substanz. Hier sitzen unser Verstand und die Denkfähigkeit.
- Das limbische System ist für Gefühle, zwischenmenschliche Beziehungen und Erinnerung zuständig.
- Im Stammhirn werden die grundlegenden Körperfunktionen gesteuert, also zum Beispiel Atmung, Herzschlag, Körpertemperatur.
Überleben sichern: was braucht es dafür (und was nicht?)
Für das Überleben ist das Stammhirn am wichtigsten, denn ohne Atmung und Herzschlag wären wir nicht am Leben. Da würde uns der schlauste Verstand gar nichts nützen. 😆
Nach dem Stammhirn kommt das limbische System und erst zum Schluss der Neokortex. “Denken” können wir uns nur dann leisten, wenn wir sicher sind. Nur wenn der „überlebenswichtigere“ Teil in Sicherheit arbeiten kann, sind auch die anderen Teile voll funktionsfähig.
Das heißt, dass bei Gefahr der Verstand immer als erstes „gedrosselt“ wird:
Wenn im limbischen System Alarm herrscht, weil bedrohliche Gefühle aktiviert wurden, kann der Verstand schon nicht mehr so gut arbeiten.
Ist die Gefahr so groß, dass das Überleben in Gefahr ist, dann ist alle Energie auf das Sicherstellen des Überlebens gerichtet. Hier ist kein klarer Gedanke mehr möglich, dein Verstand ist schlichtweg nicht erreichbar.
Die Feuerwehr deines Gehirns: was passiert bei Gefahr?
Meldet einer deiner Sinne, dass deine Sicherheit bedroht ist, wird Alarm ausgelöst und der Notfallmodus angeschmissen: der Körper bereitet sich auf die Verteidigungsstrategien vor – auf Flucht, Kampf oder Erstarren.
Hier ist Schnelligkeit in den Nervenbahnen gefragt: Wir können nicht erst lange überlegen und taktische Pläne schmieden. Das verschwendet wertvolle Zeit und verbraucht kostbare Denk-Energie.
Erfolgsversprechender ist es, wenn hier automatisierte Handlungsmuster ablaufen – Autopilot sozusagen.
Blitzschnell wird maximale Energie für Flucht, Kampf oder Erstarren bereitgestellt. Diese Energie wird Überlebensenergie genannt. Dafür schüttet der Körper Adrenalin und andere Stresshormone aus. Dein Herz schlägt schneller, deine Muskeln spannen sich an, deine Atmung wird schneller und flacher.
Es ist ein bisschen vergleichbar mit der Feuerwehr.
Kommt ein Alarm in die Zentrale, werden die gut eingeübten Abläufe ausgeführt, damit keine Zeit verloren wird. Keine*r hinterfragt das Vorgehen, keine*r macht alternative Vorschläge. So schnell wie möglich sitzen alle Einsatzkräfte im Feuerwehrauto, das sofort mit Blaulicht und Sirene los düst.
Ob es sich bei dem Einsatz um einen echten Großbrand handelt oder einen Fehlalarm, ist in dem Moment erstmal nicht wichtig.
Das gleiche passiert auch, wenn in deinem System ein Alarm losgeht.
Alarm im Alltag – was deine Wut damit zu tun hat
Die typischen Überlebensreaktionen sind wie gesagt Flucht, Kampf oder Erstarren.
Das macht bei einem Raubtierangriff auch sehr viel Sinn: der Steinzeitmensch ist entweder davon gelaufen, hat gegen das angreifende Tier gekämpft oder sich tot gestellt.
Aber was hat das jetzt mit deinem Kind zu tun?
Dein Leben ist im Familienalltag in der Regel ja nicht wirklich bedroht. Trotzdem funktioniert das Gehirn noch genau so wie vor 2 Millionen Jahren.
In unserem Familienalltag sehen nur die Überlebensreaktionen etwas anders aus.
Die Überlebensreaktionen im Familienalltag
Flucht (flight)
Flucht steht uns meistens nicht zur Verfügung – wir können ja nicht einfach davon rennen und das Kind allein stehen lassen. Allerdings kennen viele den Impuls, möglichst sofort eine Situation verlassen zu wollen. Wenn Flucht aber nicht möglich ist, dann “schaltet” das System in einen anderen Modus: Kampf oder Erstarren.
Kampf (fight)
Kampf kennen die meisten von uns – nur in der Regel nicht körperlich. Aber schreien, meckern, motzen sind eine Form des Angriffs. Deine Wut ist also nichts anderes als Ausdruck einer Überlebensreaktion. Dabei wird durch die Stresshormone so viel Energie freigesetzt, wie für einen Überlebenskampf eben benötigt wird. Daher fällt die Reaktion auf dein Kind oft so heftig aus: dein Nervensystem befindet sich im Notfallmodus. Dein Verstand ist abgeschaltet.
Erstarren (freeze)
Erstarren kann tatsächlich genau so aussehen, wie beim Feldhasen, der im Auto-Scheinwerferlicht einfach wie eingefroren stehen bleibt. Du fühlst dich wie erstarrt, obwohl du gleichzeitig innerlich total in Aufruhr bist.
Und wo soll im Alltag bitte diese „Gefahr“ sein?
Dein Körper reagiert auf dein Kind unter Umständen wie auf einen angreifenden Säbelzahntiger. Dabei ist ein kleines Kind doch nun wirklich keine Gefahr!!??
Oder doch? 🤔
Warum reagiert dein Nervensystem auf scheinbar banale Situationen mit dem Notfallmodus?
Weil es erstmal egal ist, ob wirklich deine Sicherheit bedroht ist.
Es reicht, wenn es sich so anfühlt!
Und was als bedrohlich empfunden wird, ist für jeden Menschen unterschiedlich.
Dein persönliches Gefühl von „Sicherheit“ hängt entscheidend davon ab, welche Erfahrungen du in deinem bisherigen Leben gemacht hast, welche Botschaften du im Leben erhalten hast, wie die Bindung zu deinen Bezugspersonen ausgesehen hat – kurz, wie dein Nervensystem geprägt wurde.
Verschiedenste Dinge können deinem System „Gefahr“ melden:
- bestimmte unangenehme Gefühle (z.B. Scham)
- automatisch ablaufende Gedanken (z.B. „Hier nimmt nie jemand auf mich Rücksicht“)
- bestimmte Beziehungskomponenten (z.B. Nähe)
Das sind alles für sich gesehen ungefährliche Sachen, die in dir aber vielleicht die höchste Alarmstufe auslösen. Und das passiert so schnell und unbewusst, dass du dich hinterher fragst, was denn jetzt eigentlich schon wieder los war.
Warum es so schwer ist, dein Verhalten zu ändern
Über die Jahre deines Lebens haben sich manche Verhaltens- oder auch Denkmuster so gut in dein Nervensystem eingeprägt, dass sie voll automatisiert ablaufen. Das ist eigentlich auch gut so, denn so wird Energie gespart.
Die Nervenverbindungen, die dafür benötigt werden, sind besonders stabil, weil sie schon häufig benutzt wurden. Sie bilden feste neuronale Netzwerke.
In deinem Gehirn sind sie die mehrspurigen Autobahnen.
Häufig befahren, der schnellste und bequemste Weg zum Ziel. Es gibt zwar schon auch noch Landstraßen, kleinere Wege und sogar Trampelpfade. Die zu befahren würde aber viel mehr Energieaufwand bedeuten, weshalb unter Stress lieber wieder der altbekannte Weg über die Autobahn benutzt wird.
Unter Stress fällst du also oft in Verhaltensmuster zurück, die du selbst gar nicht gut findest.
Kann du beeinflussen, worauf dein Nervensystem mit Alarm reagiert?
Wenn erstmal der Notfallmodus läuft, ist es schwer, ihn aufzuhalten oder zu verändern.
Du kannst aber sehr gut daran arbeiten, was dein System als Gefahr deutet.
Das Problem sind ja oft genau die Situationen, wo von außen betrachtet keine Gefahr besteht, es sich für dich aber trotzdem so anfühlt.
Die kannst du dir genauer anschauen. Hier kannst du umlernen. Solche automatisierten Denk – und Verhaltensmuster kannst du ändern.
Wir können neue Straßen (aka Nervenverbindungen) in unserem Gehirn bauen.
Jederzeit. Unser Gehirn ist bis an unser Lebensende in der Lage, neue Nervenverbindungen zu knüpfen.
Von heute auf morgen geht es allerdings nicht. Und es erfordert etwas Arbeit.
Was du konkret tun kannst
1. Beobachte dich
Beobachte, wie du reagierst und was der Auslöser dafür war. Beobachte deine eigenen Gedanken und Gefühle. Beobachte, in welchen Situationen du vielleicht schon ruhig bleiben kannst.
Tu das wohlwollend, ohne dich für deine Reaktion zu verurteilen!
2. Spüre dich selbst
Frage dich: Welche Gefahr droht mir hier? Wovor habe ich Angst? Welches unangenehme Gefühl kommt hier auf, das ich lieber nicht so genau fühlen möchte?
Auch wenn du jetzt vielleicht mit dem Wort „Angst“ hier nicht so viel anfangen kannst: trau dich, hinzufühlen und schau, was du entdecken kannst!
3. Halte aus
Versuche, die unangenehmen Gefühle und Gedanken da sein zu lassen. Meistens sind sie nicht so schlimm, wie befürchtet.
4. Finde ein Ventil
Kommt die Wut, dann hilft es nichts, sie runter zu schlucken. Finde Wege, deine Wut auszudrücken, die nicht dein Kind beschämen oder verängstigen. Manchen hilft in ein Kissen boxen, im Nebenzimmer schreien, körperliche Bewegung (Hampelmänner) oder auch bewusstes Atmen.
Es ist normal, dass das nicht sofort klappt. Erinnere dich an die Nervenbahnen im Gehirn, die erst neu geknüpft werden müssen. Du wirst am Anfang nur kleine Fortschritte machen, aber auch die sind ein Grund zum Feiern!
Die gute und gleichzeitig schlechte (aber eigentlich doch eher gute) Nachricht
Dass du immer wieder in alte Muster fällst, liegt also nicht daran, dass du dich zu wenig angestrengt hättest. Es liegt an der Funktionsweise deines Nervensystems.
Eine Veränderung von Nervenbahnen – also von alten, unbewussten Verhaltensmustern – ist möglich. Ein bisschen Geduld wirst du dafür allerdings brauchen.
Mach es dir zur Aufgabe, dir selbst auf die Schliche zu kommen. Dann schaffst du es nach und nach, auf das Verhalten deines Kindes anders zu reagieren. Und kannst immer mehr der Elternteil sein, der du sein willst für dein Kind.
2 Antworten