Kinder und Grenzen – bei kaum einem Thema geht so die Post ab…
Die einen finden, Kinder brauchen keine Grenzen. Sie würden nur ihrer Entwicklung schaden.
Die anderen schlagen die Hände über dem Kopf zusammen und fragen sich, wo wir denn da hinkämen!!!??? Und überhaupt… die Tyrannenkinder!! Und dann lasse man ja sein Kind wohl auch einfach so auf die Straße rennen, oder wie????
Und du als Elternteil? Willst es vermutlich einfach nur richtig machen.
Also lass uns mal ein bisschen Klarheit in die Sache bringen!
Inhaltsverzeichnis
ToggleWas sind eigentlich Grenzen? – eine Klarstellung
Vielleicht hast du beim Wort „Grenzen“ eine bestimmte Vorstellung davon im Kopf, was eigentlich gemeint ist. Das Problem: Unter “Grenzen” verstehen Menschen ganz unterschiedliche Sachen.
Deswegen ist es wichtig, dass wir hier über die gleichen Dinge sprechen.
Es gibt da nämlich einen wichtigen Punkt:
Grenzen sind etwas anderes als Regeln.
Klingt nach Haarspalterei? Ist aber wichtig – und gar nicht kompliziert 😊
Grenzen
Grenzen hat jeder Mensch von Natur aus. Auch Kinder. Auch Eltern!
Die musst du nicht “setzen”, die sind einfach da!
Da wären zum einen die natürlichen Grenzen deiner Kapazitäten: deine Energie und Kraft sind begrenzt. Deine Geduld sowieso.
Und dann hast du wie jeder Mensch noch ganz persönliche Grenzen, die deinen Körper und deine Würde (deine “Integrität”) betreffen:
- einen Bereich (Schutzraum) um dich herum, in den andere Menschen nicht einfach so eindringen dürfen und dessen Größe variiert (gegenüber Fremden ist diese “Intimdistanz” größer, dein Kind akzeptierst du vermutlich sehr viel näher an dir dran)
- Grenzen, die sich aus deinen persönlichen Eigenschaften, Vorlieben oder Werten ergeben (zum Beispiel mögen es manche, vom Kind abgeknutscht zu werden – andere gar nicht. Oder das Spiel mit Schlamm und Dreck – für manche ein großer Spaß, für andere Alptraum)
Und das gleiche gilt natürlich für dein Kind! Auch dein Kind hat eigene Grenzen. Und die müssen genau so geachtet und gewahrt werden wie die von uns Erwachsenen!
Grenzen sind sehr individuell, von Mensch zu Mensch können sie sehr unterschiedlich sein.
Regeln
Im Gegensatz zu Grenzen sind Regeln normalerweise nicht einfach so da.
Wir stellen sie auf, um unser Zusammenleben angenehm und sicher zu machen.
Vieles, was wir in Bezug auf Kinder als “Grenzen” bezeichnen, sind eigentlich Regeln. Zum Beispiel:
- die Begrenzung von Medienzeit
- akzeptiertes Verhalten beim Essen
- das Einfordern von bestimmten Verhaltensweisen gegenüber Erwachsenen
Auch Regeln sind wichtig. Ein Zusammenleben, bei dem sich alle wohlfühlen können, erfordert, dass sich alle an gewisse Regeln halten.
Aber: Regeln können auch schnell einengend, willkürlich oder ungerecht sein.
Möchtest du deinem Kind wertschätzend begegnen, sollten die Regeln in eurer Familie folgende Bedingungen erfüllen:
- sie sollten nicht einfach willkürlich aufgestellt werden (“weil man das halt so macht”), sondern immer einen Sinn haben
- sie dürfen niemals die Würde eines Familienmitglieds verletzen
- wenn es die Umstände erlauben, muss die Regel für alle Beteiligten gelten – nicht nur für Kinder (z.B. die Regel “wir lassen uns gegenseitig ausreden”)
Je achtsamer und bewusster (und sparsamer!) ihr in eurer Familie Regeln aufstellt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich auch alle daran halten.
Und: viele Regeln erübrigen sich, wenn wir konsequent alle (natürlich da seienden) Grenzen achten.
Vielleicht eine gute Gelegenheit, eure Familienregeln mal gemeinsam zu überprüfen?
Brauchen Kinder Grenzen?
Klare Sache: JA! Kinder brauchen Grenzen! Und zwar keine künstlich auferlegten, sondern die, die eben da sind.
Persönliche Grenzen müssen gewahrt werden – sowohl die eigenen, als auch die von anderen! Und das müssen Kinder erst lernen.
Es ist nämlich nicht im Bauplan eines Menschenkindes vorgesehen, Rücksicht auf seine Bezugspersonen zu nehmen. Stattdessen ist es evolutionsgeschichtlich seine Aufgabe, bei der Verteilung der knappen Ressourcen nicht zu kurz zu kommen. Das ist pure Überlebenstaktik!
Du als Erwachsene*r hast dagegen die Aufgabe, dich sowohl um dein Kind als auch um dich gut zu kümmern. Du darfst also dafür sorgen, dass deine Grenzen gewahrt werden.
Genau so essenziell ist es aber auch, dass die Grenzen von Kindern gewahrt werden.
Kinder spüren ihre Grenzen meistens ganz gut und zeigen sie auch deutlich. Leider kommt das oft nicht so gut an und wird den Kindern so schnell wie möglich aberzogen. Für viele ist es ganz selbstverständlich, die Grenzen von Kindern zu übergehen:
Zum Beispiel wird erwartet, dass ein Kind sich klaglos von der Verwandtschaft abknutschen lässt. Oder dass das Kleinkind beim langen Spaziergang auf jeden Fall selbst läuft, auch wenn es längst erschöpft ist. Oder dass das Kind auf jeden Fall diesen einen Pullover anziehen muss, auch wenn der kratzt. Oder oder oder…
So verlernen Kinder, sich und ihre Grenzen zu spüren.
Es entstehen Glaubenssätze, die sich so anhören: „Ich darf meine Grenze nicht wahren und muss mir alles gefallen lassen” oder “egal wie es mir geht, ich muss weitermachen”. “Ich darf nicht NEIN sagen”.
Und das ist ein Problem. Denn werden aus Kindern Erwachsene, die sich nicht gut um sich selbst kümmern können.
Denkst du, dass du auch einen solchen Glaubenssatz verinnerlicht haben könntest? Im Artikel Glaubenssätze auflösen kannst du nachlesen, wie du damit umgehen kannst.
Darum müssen Kinder ihre eigenen Grenzen wahren dürfen
Nur wenn Kindern zugestanden wird, ihre eigenen Grenzen zu wahren, dann …
- können sie ihre körperliche Integrität schützen
- entwickeln sie ein intaktes Selbstwertgefühl
- empfinden sie in und mit sich selbst ein Gefühl von Sicherheit
- sind sie in der Lage, sich gegen Ungerechtigkeit, Übergriffe und Missbrauch zu wehren
- können sie sich ihr Grundbedürfnis nach Autonomie erfüllen
- sind sie bereit und auch mal in der Lage, die Grenzen von anderen zu respektieren
Darum braucht dein Kind, dass du deine eigenen Grenzen wahrst
Nur wenn die Bezugspersonen ihre eigenen Grenzen aufzeigen und (sanft) wahren, dann…
- ermöglicht das dem Kind, sich in eine Gemeinschaft einzufügen
- erlebt dein Kind Orientierung, Halt und Sicherheit
- kann sich das Kind sein Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit erfüllen (da es weiß, wie es sich hier zu verhalten hat)
Du tust deinem Kind keinen Gefallen, wenn du es über deine Grenzen hinweg walzen lässt und dann vor lauter Erschöpfung oder Wut explodierst. Oder wenn du alles stoisch erträgst und dein Kind kein Vorbild für sozialverträgliches Miteinander kennen lernt. Oder wenn du deine Grenzen selbst nicht kennst und dein Kind an deiner Körpersprache und deinem Verhalten erraten muss, was jetzt Sache ist.
Muss ich konsequent sein?
Nein. Grenzen können sich verschieben: weil mal mehr, mal weniger Energie zur Verfügung steht oder weil sich deine Werte und Wunschvorstellungen ändern. Entsprechend darf natürlich auch dein Umgang damit angepasst werden.
Nur, weil du letzte Woche genügend Kraft für einen Schwimmbadbesuch hattest, musst du nicht heute auch “ja” dazu sagen.
Außerdem haben unterschiedliche Bezugspersonen individuelle Grenzen: Was mit Papa im Spiel erlaubt ist, überschreitet beim Opa vielleicht eine Grenze. Da müssen nicht bei allen die gleichen Grenzen gelten.
Anmerkung: Es gibt Kinder, die zur Orientierung sehr feste und konsequente Strukturen brauchen. Für die kann es sehr schwer nachvollziehbar sein, wenn einmal so und einmal so entschieden wird. Vor allem für Kinder aus dem neurodivergenten Spektrum trifft das manchmal zu. Schau, was ihr als Familie braucht und scheue dich nicht, deinen Umgang mit Grenzen an eure Situation anzupassen!
Wann schaden Grenzen meinem Kind?
Zu starre Grenzen, die nicht an eure Bedürfnisse angepasst werden, können deinem Kind schaden.
Grenzen, die unklar sind und keine Orientierungsmöglichkeit bieten, schaden deinem Kind.
Grenzen, deren Einhaltung erst dann eingefordert wird, wenn sie schon längst überschritten sind und das Kind dann angemotzt, beschämt und beschuldigt wird, schaden deinem Kind.
Können Grenzen immer respektiert werden?
Das wäre schön. Es wird aber immer wieder Situationen geben, in denen Grenzen überschritten werden müssen – sowohl die deines Kindes als auch deine eigenen.
Wann ist es nicht möglich, die Grenzen deines Kindes zu wahren?
Wir Erwachsenen sind für die Sicherheit und Gesundheit unserer Kinder verantwortlich. Weil sie weniger Wissen und Lebenserfahrung haben als wir, können sie die Folgen von manchen Entscheidungen einfach nicht abschätzen.
Natürlich kannst du nicht dein Kind auf die Straße rennen lassen, nur damit es sein Autonomiebedürfnis ausleben kann.
Natürlich muss die körperliche Integrität zum Beispiel bei medizinisch notwendigen Untersuchungen auch mal verletzt werden.
Natürlich kannst du dein Kleinkind nicht nur mit Windel bekleidet im Winter Schlitten fahren lassen.
In vielen Situationen lohnt es sich aber, sich selbst immer wieder neugierig zu hinterfragen: MUSS das jetzt wirklich sein oder kann ich auch Alternativen zulassen?
Und: die Grenzüberschreitung sollte so sanft wie möglich passieren, ohne das Kind dabei auch noch zu beschimpfen und zu beschämen!
Wann musst du deine eigenen Grenzen übergehen?
Genauso wird es auch vorkommen, dass du als Elternteil deine Grenzen überschreiten (lassen) musst.
Je jünger das Kind ist, desto unmittelbarer müssen seine Bedürfnisse erfüllt werden und desto weniger gut kannst du auf deine eigenen Bedürfnisse und Grenzen achten.
Manchmal musst du abwägen: welches Bedürfnis ist hier gerade dringender? Wer kann am ehesten Zurückstecken? Und: habe ich gerade Lust und Kraft, Konsequenzen meiner Grenzziehung zu tragen?
Und dann gibt es noch Umstände, die du einfach nicht beeinflussen kannst: Lohnarbeitspensum, Kita-Beginn, wichtige Termine. Wenn es dir möglich ist, darfst du aber auch hier überprüfen: was passt wirklich zu uns und mir? Mehr dazu kannst du im Artikel Wie du in 4 Schritten zu mehr Leichtigkeit findest lesen.
Wie wahre ich meine eigenen Grenzen? 5 Schritte
Jetzt fragst du dich vielleicht, wie du das mit dem Grenzen wahren bitte anstellen sollst, wo dein Kind sich nur so mittelmäßig für deine Grenzen interessiert?
Oder vielleicht ist es für dich auch völlig neu, dass du Grenzen haben und sie wahren darfst?
So kannst du vorgehen:
1. Grenzüberschreitung wahrnehmen
Zuerst musst du überhaupt wahrnehmen, dass gerade deine Grenze überschritten wird.
Das kann sich so anfühlen:
- unangenehme Körperempfindungen (Druck in der Brust, Anspannung im Nacken, zusammengepresste Kiefer…)
- Erschöpfung, Traurigkeit
- ein Gefühl von innerer Abwehr, Widerstand
- aufkommende Wut
Eine kleine Übung, wie du deine eigenen Körpersignale besser wahrnehmen kannst, findest du im Blogartikel So spürst du deine Grenze, BEVOR du explodierst.
2. Abwägen: kann ich die Grenze jetzt durchsetzen? Was könnte die Konsequenz sein?
Im zweiten Schritt musst du zu einer Entscheidung darüber kommen, ob du deine Grenze in diesem Fall wahren möchtest oder nicht.
„Gibt es hier überhaupt Entscheidungsspielraum oder müssen wir da jetzt alle durch?
Kann mein Kind (entwicklungsbedingt) schon einen Moment warten? (Säuglinge können Bedürfnisse nicht aufschieben, das klappt erst bei älteren Kindern nach und nach)
Habe ich Kapazitäten für die Konsequenzen? (Kostet es mehr Kraft, noch eine Runde auf den Spielplatz zu gehen oder den Wutanfall zu begleiten? Oder wird es sowieso einen Wutanfall geben und vorher noch Spielplatz wäre dann wirklich zu anstrengend?)“
Es kann absolut ein Akt der Selbstfürsorge sein, die eigene Grenze zu übergehen, weil in der Gesamtbilanz dann doch mehr Energie übrig bleibt.
3. Grenze kommunizieren
Kommuniziere deine Grenze so klar und sanft wie möglich mit Worten und Taten.
Erkläre deinem Kind, was genau du möchtest oder nicht und warum das so ist (“Das tut mir weh”, “ich bin erschöpft”, “das macht mir keinen Spaß”…)
Versuche, ohne Beschuldigung und Beschämung auszukommen. Bevor du deine Grenze mitgeteilt hast, kann dein Kind sie nämlich nicht kennen.
4. Grenze verteidigen
Schön wäre es natürlich, wenn dein Kind deine Grenze jetzt einfach akzeptieren würde. In der Regel ist das aber nicht der Fall, denn hinter dem Verhalten deines Kindes steht ja auch ein Bedürfnis (nach Verbindung, nach Spaß, nach Autonomie…). Daher musst du für die Einhaltung deiner Grenze selbst sorgen.
Das kann so aussehen, dass du liebevoll standhaft bleibst, wenn dein Kind weint und bettelt (vorausgesetzt, du bist in Schritt 2 achtsam vorgegangen. Ansonsten kannst du das jetzt nachholen).
Es kann aber auch so aussehen, dass du dein Kind körperlich begrenzt. Du kannst zum Beispiel seine Arme festhalten, wenn es auf dich einschlägt oder es vom Geschwisterkind abschirmen, um einen körperlichen Angriff zu verhindern. Dabei solltest du aber so sanft wie möglich sein!
Versuche dabei, in Verbindung mit deinem Kind zu bleiben und ihm die Sicherheit zu vermitteln, dass du für dein Kind da bist.
5. Konsequenzen aushalten
Frust, Enttäuschung, Verzweiflung, Wut – das sind alles völlig legitime Reaktionen deines Kindes auf deine Grenze!
Deine Aufgabe ist jetzt, den Frust und die Enttäuschung deines Kindes zu akzeptieren und zu begleiten und trotzdem mit ihm in Verbindung zu bleiben. Das ist nicht einfach.
Gerade, wenn du bisher deine Grenzen nicht klar aufgezeigt hast, wird dein Kind erstmal mit Widerstand reagieren.
Deshalb ist es wichtig, dass du beim Schritt 1 und 2 sorgfältig vorgegangen bist.
Je klarer du in deiner Entscheidung bist, desto leichter wird es dir fallen, die Reaktion deines Kindes darauf gut begleiten zu können.
Und jetzt: üben!
Wahrscheinlich wird das Ganze nicht auf Anhieb perfekt klappen.
Du musst dich und deine Grenzen erstmal kennenlernen und dann nach und nach Klarheit entwickeln darüber, was für euch passt. Es wird passieren, dass du Entscheidungen triffst, die du hinterher vielleicht in Frage stellt. Manchmal wird sich alles furchtbar anstrengend anfühlen.
Das ist alles völlig okay!
Du wirst merken: mit klaren Grenzen wird vieles leichter – und dann braucht es auch nicht mehr so viele Regeln 😉
Weißt du selbser nicht so genau, was du eigentlich brauchst und wo deine Grenzen sind? Könntest du etwas Unterstützung gebrauchen beim Finden deiner inneren Klarheit?
Genau das können wir im Coaching zusammen erarbeiten! Ich biete ein „kurz und knackig“ Coaching oder das „zurück zu dir“ Coaching-Paket an! Schau dich um und buche dir ein kostenloses Kennenlerngespräch mit mir.